George ist 92 und ziemlich stur. George ist mein Nachbar. George lebt alleine. Letztes Jahr haben seine beiden Söhne zusammenglegt und ihm einen Treppenlift gekauft, damit er ein kleines bisschen mobiler ist, denn er wohnt im ersten Stock. Er benutzt den Lift zwar nur, um seine Post zu holen, aber „das habe ich den beiden ja nicht auf die Nase binden müssen“, erzählte er mir noch vor Kurzem mit einem Zwinkern.
Georges Frau ist vor 5 Jahren gestorben. Mein anderer Nachbar, Gary, meinte, „die hat ihn ganz gut im Griff gehabt, aber jetzt verwahrlost er schon langsam ein bisschen“. George telefoniert jeden Tag mit Elaine, die in San Francisco lebt und auch so etwa in seinem Alter ist. Die beiden habe eine Telefonbeziehung und passen auf einander auf, rufen sich jeden Tag an und wünschen einander eine gute Nacht. Manchmal vergisst George, Elaine anzurufen und dann bekomme ich einen aufgeregten Anruf von ihr. Ich gehe dann rüber zu ihm, klopfe und klingele so lange, bis er die Türe öffnet. Meistens schaut er mich verschlafen an und kann die ganze Aufregung gar nicht verstehen. George schläft viel.
Heute war es anders. Schon bei Elaines Anruf bekam ich ein komisches Gefühl. Als ich dann vor seiner Tür stand, lag dort sein „Essen auf Rädern“ im Regen. Er bekommt die Lieferung nur Montag-Donnerstag. Das Essen war also von gestern. Auf mein Klingeln hin machte niemand auf. Die Wohnung war dunkel, nichts regte sich. Nachdem ich bei ein paar Nachbarn geklingelt hatte und sich herausstellte, dass ausgerechnet die Nachbarin, die seinen Schlüssel hat, gerade im Urlaub ist, rief ich die Polizei an.
Kurz darauf standen zwei Polizeiautos vor meiner Türe. Die Officer waren wenig begeistert. Sie kannten George schon. Nach einigem hin- und her waren sie dann aber doch bereit, die Türe einzutreten. Ich habe noch nie gesehen, wie eine Türe eingetreten wird. Gary und ich standen unten auf der Straße, hörten es krachen und bekamen beide ein sehr laues Gefühl im Magen. Wir versuchten es mit ein paar Witzen, um die Stimmung aufzulockern, aber ließen das auch bald wieder bleiben. Mir war irgendwie zum Heulen zumute. Dann kam einer der Officer zu uns und teilte uns mit, dass es George so weit gut gehe. Er sei nur so schwach, dass er nicht mehr aufstehen könne. Die Feuerwehr und der Krankenwagen trafen kurz darauf mit großem Getöse und Getute in unserer kleinen Straße ein.
Wegen des Treppenlifts konnten die Sanitäter George nicht mit der Trage aus der Wohnung bekommen, die Feuerwehr musste mit zupacken. Ich wollte dabei aber nicht mehr zusehen und bin wieder nach hause gegangen.
Gerade wird George vor meinem Fenster in einen Krankenwagen geladen. Ich hoffe, ich sehe ihn wieder…
Eine ergreifende Geschichte.
Ich drücke George die Daumen und wünsche Dir, das Du Ihn wieder siehst.
liebe Grüße von Bea
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Das ist ja traurig. Da kommt mir eben der Jopi in den Sinn, der ist ja an Heilgabend abgetreten.
Hast du Neuigkeiten von George?
Ich drücke ihm jedenfalls auch die Daumen, dass er wieder „auf den Damm kommt“ (wie meine Oma zu sagen pflegte)
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Ich bin ganz gerührt … und sprachlos. Alles Liebe aus Haight Ashbury N.
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Ihr Lieben, ich wollte es schon öfter schreiben, aber irgenwie… ach. George ist auf dem Transport vom Krankenhaus in eine Pflegeeinrichtung leider verstorben. Die letzten Tage seines Lebens war er gar nicht mehr aufgewacht. Leider habe ich es zu kurzfristig erfahren und konnte nicht an der Trauerfeier teilnehmen. Ich bin jedenfalls sehr froh, ihn kennengelernt zu haben!
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